Die Ess-Kultur ist in Gefahr

Ernährung

Aigner, BLL und NGG ringen um die Ess-Kultur

Die Jahrestagung des Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) wurde am Donnerstag zu einer lebhaften Veranstaltung, bei der Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner ihr Redeskript zur Seite legte. Der leidenschaftliche Diskurs über Ampeln, Verbraucherinformationsgesetz, Smileys und Dioxin zeigte keine unüberwindbaren Gegensätze. Aus Verbrauchersicht lebt die Diskussion: Politik, Industrie und Gewerkschaft reden miteinander. Wenn letztlich die Details geklärt sind, besteht die Chance auf eine „entschleunigte Ess-Kultur“. Eine, die Gefahren richtig einschätzt, die ein realistisches Bild von der Lebensmittelproduktion zeigt und bei der Verbraucher sich dem Genuss anvertrauen dürfen.

Der Birkel-Schatten

Im Jahr 1985 entstand der Vorwurf, dass die Firma Birkel verdorbenes Flüssigei für ihre Nudeln verwendete. Trotz gegenteiliger Versicherung des Unternehmens brach in den folgenden Monaten der Umsatz um die Hälfte ein. Das Unternehmen erholte sich davon nicht, wurde 1989 verkauft und bekam vom Land Baden-Württemberg zwei Jahre später 13 Millionen DM Schadenersatz – weil die Vorwürfe nicht berechtigt waren.
Dieser Vorfall bestimmt bis heute die Diskussion der Industrie. Dr. Werner Wolf, Präsident des BLL, sieht keinen Unterschied zwischen dem mittlerweile nicht mehr favorisierten Smiley und dem möglicherweise kommenden Kontrollbalken für die Hygieneverhältnisse in der Gastronomie. Beide Systeme bewerten den Betrieb und eine Nachbesserung könne mitunter nicht schnell genug im Gütesiegel korrigiert werden. Das könne das wirtschaftliche Aus bedeuten.
„Hoch gefährlich“ sei auch der produktbezogene Teil des geplanten Informationsportals „Wahrheit und Wahrheit“, so Dr. Wolf. Produkte, die gesetzeskonform produziert wurden, könnten durch falsche Vorstellungen von Verbrauchern als Täuschungen gebrandmarkt werden.

Die Wähler-Furcht

Der Dioxin-Fall hatte objektiv nur wenige Befunde oberhalb des zulässigen Grenzwertes hervorgebracht. Die Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung zur generellen Kontamination von beispielsweise Dioxin ging nicht nur bei Medien und Verbrauchern unter, wohl auch bei der Politik. Im Rahmen des vorbeugenden Verbraucherschutzes wurden mehr als 4.000 Betriebe gesperrt. Ilse Aigner sagte am Donnerstag, es habe einen Punkt gegeben, an dem das Ministerium hätte handeln müssen.
Letztlich bekommt die Politik den Zorn der Straße zu spüren. Aigner störe es, dass es immer wieder Einzelne gibt, die gleich die ganze Branche in Misskredit bringen und die Wirtschaft nicht in der Lage sei, solche Probleme selbst zu lösen. So müsse die Politik über das Ordnungsrecht neue Gesetze erlassen, über deren Kompliziertheit sich dann die Wirtschaft aufrege. Nach Aigner ist das Lebensmittelrecht nicht einfach und müsse gemeinsam von Politik und Wirtschaft erklärt werden. „Sie können sich keine andern Verbraucher machen“, sagte Aigner in Richtung BLL. Industrie und auch Bauernverband sollten aufhören mit überholten Bildern Werbung zu machen. Es gebe heutzutage weder Mönche, die Sahne rühren, noch die Sennerin auf der Alm. „Werben sie mit positiven Attributen“, rät Aigner.

Rückzugs-Angst

Derzeit schwanken die Diskussionen über Lebensmittel und ihrer Sicherheit zwischen Verharmlosung und Hysterie, sagte Franz-Josef Möllenberg, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Es gibt gemeinsamen Selbstorganisationen, die Verbrauchern den Wert der Nahrung und die hohe Sicherheit vermitteln können. Gegen Übergewicht und für mehr Bewegung wurden die Plattformen Ernährung und Bewegung (peb) und in-Form gegründet. Aus der ersten aber habe sich die Bundesregierung zurückgezogen und bei der zweiten glänze der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber durch Abwesenheit. Möllenberg bemängelte auch, das neue Berufe im Bereich der Lebensmittelproduktion schon mal drei Jahre brauchten, um dem letzten Berufsfachberater bekannt zu sein.
Signale, dass bekundetes Interesse über der Branche größer ist, als die Taten der Branche selbst?

Die Gesellschaft ändert sich

Waren im Mittelalter Betrügereien am Volumen von Lebensmitteln weit verbreitet, so zeichnet sich nach Prof. Dr. Ulrich Nöhle von der Universität Braunschweig die Überflussgesellschaft durch ethisch bestimmte Befindlichkeiten aus. Wer diesen Trend nicht aufnimmt, werde am Markt nicht bestehen, sagte er kürzlich in Berlin.
Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), zitierte am Donnerstag eine Untersuchung, bei der die Motivation „Hunger stillen“ von Verbrauchern deutlich nach der Motivation „Wahl aus einem vielfältigen Angebot“ genannt wurde. So verhält es sich auch mit dem Risiko, das kaum noch jemand richtig einordnen könne. Ein Raucher müsse sich keine Gedanken über Rückstände von Pflanzenschutzmitteln mehr machen – er stirbt an den Zigaretten deutlich vorher, bevor überhaupt Rückstände akkumuliert wirken können. Bei Verbrauchern spiele aber das Risiko, auch das gefühlte individuelle Risiko, eine immer größere Rolle. Das bedeute für Politik und Industrie, dass Kaufentscheidungen von steigender Unsicherheit geprägt sind. Dadurch verändert sich die Eingriffsschwelle des Staates, dem vordergründig die Verantwortung zugesprochen wird. Das BfR hat zu Beginn des Dioxin-Falls ausgesprochen, dass keine Gesundheitsgefährdung besteht – und ohnmächtig mit ansehen müssen, wie die Geschichte durch Tempo und Aufmerksamkeitsstrategien im „Medienschlamm“ versank. Autoren und Medien gehören zu einer „entschleunigten Ess-Kultur“ dazu.

Neue Chance im Herbst

Die BLL-Jahrestagung hat gezeigt, dass jeder Recht hat – aber alleine nicht weiterkommen wird. Es sei denn, die Beteiligten haben den Mut, einmal über ihren Schatten zu springen: Ist es denn schlimm, wenn ein unhygienischer Betrieb ohne zweite Chance geschlossen wird, beseitigt er die Mängel nicht? Ist es denn schlimm, die Richtlinien im Lebensmittelbuch einfacher und verbraucherorientierter zu gestalten? Oder ist es denn schlimm, Verbrauchern die Grenzen ihrer Träume aufzuzeigen? Am besten schon in der Schule mit Alltagswissen und Verbraucherkompetenz. Vielleicht muss vor der Klasse nicht gleich ein Kaninchen geschlachtet werden.
Im Herbst gibt es eine neue Chance. Dr. Wolf kündete an, dass auf der ANUGA eine Branchenplattform vorgestellt wird, die vom Landwirt bis zur Ernährungsindustrie, die Branchenkommunikation übernehmen will. Zu 80 Prozent ist die Arbeit an der Plattform bereits fertig.

Lesestoff:
Früher war alles besser! Stimmt das? Nahrung nach Norm

Roland Krieg

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